Geistliche Impulse

Predigtreihe in der Fastenzeit: Tugend. Ein überholter Begriff? (April 2022)

Der Pastorale Raum Mindener Land lud die Gläubigen zu den Fastensonntagen zu einer Predigtreihe ein. In vier Predigten haben die Priester die vier so genannten Kardinalstugenden beleuchtet. Schon seit der vorchristlichen Antike gehören diese vier Grundhaltungen zu den ethischen Leitplanken gelingenden Lebens. Durch das Zeugnis der vier Evangelien und der Apostelbriefe sind sie noch einmal auf besondere Weise mit christlichem Sinn erfüllt und ausgedeutet worden.

Die Predigten können auf Youtube angehört werden: (Playlist)

Marias Tränen (Mai 2021)

„Die Tränen einer Mutter um ihr totes Kind wiegen mehr als alle Ozeane der Welt!“

von David F. Sonntag, Pastor am Dom

 In den Kirchen unseres Pastoralverbundes begegnen uns viele Mariendarstellungen: das Angesicht der Gottesmutter in der Ikone in St. Paulus, die von vielen hochverehrte Madonna im rechten Seitenschiff in St. Ansgar, die immer liebevoll mit Blumen geschmückte, prachtvolle Traubenmadonna im Dom oder die bescheidenen, und deshalb so tief berührenden Darstellungen in den Kirchen im Nordbereich: es ist immer Maria, das Vorbild im Vertrauen auf Gott, die Mittlerin, die Gottesgebärerin, die uns in den unterschiedlichen Darstellungen vor Augen gestellt ist. Unter allen verehrten Darstellungen sticht aber eine heraus: die Pietá, die leidende Mutter Jesu, die ihren toten Sohn auf dem Schoße trägt.

Pietá, die leidende, trauernde Mutter Jesu

Ihr Raum ist rund und eng und hoch, fast schlotartig. Wenn man ihn betritt, so spürt man die Wärme der immer unzählig brennenden Kerzen zu ihren Füßen. Ein paar einfache Sitzgelegenheiten an den Wänden, die rußig-dunkel verfärbt sind: wie eingebrannte Spuren unzähliger Gebete. Allein der Raum scheint die Bitten, das Flehen, das Danken der Beter wiederzugeben, wie als ob ein unverständliches Murmeln zu hören wäre. Die einfache Kladde bewahrt unzählige Gedanken auf, die hier gedacht und sich auf die Seiten hingeworfenen Buchstaben niedergeschlagen haben: deutsche, polnische, spanische Sätze, arabische Buchstaben, vietnamesische Wörter voller Diphtonge und Akzente… Viele Gedanken sind hier gedacht worden, Gebete lautlos labialisiert, Bitten und Dank. Und alles anvertraut der Leidensfrau, der Schmerzverzehrten, der von sieben Schwertern des Leidens Durchbohrten. Diese Figur: Maria, die leidende, trauernde Mutter.

Die Darstellung der Pietá, wie sie uns in der Marienkapelle im Dom begegnet, berührt uns nicht nur, weil wir Mitleid verspüren mit der Mutter, die um ihr totes Kind trauert, sondern weil wir im letzten auch unser eigenes Leiden in diesem Bild wiedererkennen.

Jeder von uns leidet, jeder.

Jeder von uns hat ein Leiden an sich, körperlich, auffallend, kaum zu verschleiern, oder auch heimlicher, versteckter, als ein Leiden der Seele. Auf der einen Seite Krankheit, Gebrechen des Alters, aber auch beim jungen Menschen, andererseits das schmerzerfüllte Leiden unserer Seele: die schlecht verarbeitete Trauer um einen geliebten Menschen, die Wunden aus Kindheit und Jugend, die Hänseleien aus der Schulzeit, die jetzt noch schmerzen und wehtun, die festsitzenden Komplexe, weil man sich für zu dick, zu klein, zu unintelligent hält und nie diese nagenden Zweifel loswurde. Dann die Einsamkeit, die sich in unser Inneres geschlichen hat, wie ein Schatten: obwohl immer so viel los ist, ich so viele Menschen um mich habe, frisst in mir das dunkle Gefühl, fremd zu sein in dieser Welt, unverstanden, unpassend, ja im letzten doch ungeliebt zu sein. Diese Betrachtung könnte man fortführen ins Unendliche… Jeder von uns leidet, jeder. Selbst jener, jene, die doch nach außen hin so stark, so klug, so perfekt, so überzeugt und standhaft, so unangreifbar wirkt. Unser eigenes, individuelles Leiden spiegelt sich wieder in diesem zerschundenen Körper des Herrn: Er ist wie wir ein Leidender, oder genauer: ein durch das Leid Gegangener, der die Wunden seines Leidens trägt. Wie nah ist der Herr uns in diesem gekreuzigten Körper! Doch wie oft versuchen wir mit den falschen Mitteln unser Leiden zu überspielen, unsere Not klein und unbedeutend zu machen? Wer sich immer zu klein fühlt, macht andere klein, drangsaliert sie, unterjocht sie. Wer sich zu dumm fühlt, der hält andere für dumm, belügt, betrügt. Wer einsam ist, der sucht die Zerstreuung, in Sex, Alkohol, in Drogen, mit dem Smartphone, im Internet, in der betäubenden Überflutung, in die er sich stürzt. Und wer sich ungeliebt fühlt, der kann nicht lieben, kann nicht geben, kann nicht vergeben, kann nicht gut sein lassen, kann nicht lieb sein, kann nicht… kann nicht… kann nicht… Das ist der Urgrund der Schuld, die sich breit machende, sich fest einnistende Begründung für Sünde in uns Menschen: ich kann nicht!, oder in ihrer auf mit Nachdruck pochenden Vertrauten: ich kann eben doch nicht anders! Verstrickung der Sünde: Gefangen im eigenen Begründungshorizont: die Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt!

Auch unsere Seele möchte geliebt werden

So wie Maria ihren Sohn auf dem Schoß birgt, ihn an sich drückt: Es ist die Sehnsucht in uns, die sich in der Mutter widerspiegelt. Auch unsere Seele möchte nur in den Arm genommen werden, berührt, geliebt sein, geborgen werden: Sie will zur Mutter.

Nicht zufällig brennen die meisten Kerzen im Dom in der Marienkapelle, diesem urtümlichen, fast archaischen Raum. Die Pietá im Dom, sie ist der Hoffnungspunkt für viele, viele Menschen, die für das Gebet, für Begegnung mit Gott diese Kirche besuchen. Das Fürbittbuch, das dort ausliegt, gibt davon Zeugnis. So viele Kerzen, so viele Bitten, so viel Ehrlichkeit doch mit sich selbst und den Anderen, mit dem Herrn. Doch: so viele, die dann doch nicht stehen bleiben, verhärtet sind, in dem erstarrten „Ich kann nicht!“. Jede Kerze, die dort brennt, ist für mich wie ein gleißend-heller Flutlichtstrahler, der die Wahrheit beleuchtet: Der Glaube an Erlösung durch Christus ist ungebrochen. Die Sehnsucht nach Erlösung brennt in den Herzen so vieler!

Wir sind es wert (Mai 2020)

Wir sind es wert, dass Gott uns liebt. Dieser Gedanke kann befreiend wirken.

von Christian Bünnigmann, Pastor im Pastoralen Raum Mindener Land

Liebe Leserinnen und Leser! Nun ist der „Neue“ auch schon über hundert Tage in Minden und die Schonfrist der Eingewöhnungszeit läuft allmählich aus. Vom „Neuen“ könnte man erwarten, dass er wirklich Neues bringt und als Priester Neues zu verkünden hat. Dabei sagt doch das Alte Testament im Buch Kohelet, dass es nichts Neues unter der Sonne gäbe. Damit soll gesagt sein: Alles sei irgendwie schon einmal da gewesen. Oder auch: Immer dann, wenn Menschen meinten, sie hätten jetzt die ganz neue Entwicklung eingeleitet, das über alle Maßen erhabene Neue gefunden, reiche der Blick in die Geschichte einfach nicht weit genug, um zu erkennen, dass das oder Ähnliches schon einmal da gewesen war.

Das einzig wirklich Neue unter der Sonne, die Neuheit, die alles verändert, ist, dass Gott sich dem Menschen neu zugewandt hat; dass Gott sich in der Menschwerdung seines Sohnes uns ganz geschenkt hat. Gott hat den Menschen wieder „gottfähig“ gemacht. Er hat dem Menschen durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes, Jesus Christus das Angebot des göttlichen Lebens gemacht. – Das ist wirklich neu! Und das kann sich der Mensch auch nicht selbst machen, selbst ausdenken oder konstruieren. Das muss sich der Mensch schenken lassen. – Und Gott will es ihm schenken!

In der Taufe sind wir hineingenommen in das Leben des Dreifaltigen Gottes – des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Auch das klingt für uns nicht unbedingt neu, weil wir seit zweitausend Jahren daran gewöhnt sind. Und doch ist dies das absolut Neue, was alle Grenzen sprengt, sogar die – für den Menschen – unüberwindbare Grenze des Todes. Wir sollen nicht verlöschen, wir sollen nicht verderben im Tod. Wir sind gerufen, in unserem Leben die Gabe Gottes, das Geschenk des göttlichen, ewigen Lebens anzunehmen. Diese freie Hinwendung Gottes zu uns fordert uns heraus, darauf – durch unser Leben – eine dankbare und bejahende Antwort zu geben. Gott will allen, die so sein Angebot annehmen, eine Gemeinschaft des göttlichen Lebens mit ihm und untereinander schenken! Uns soll ein Leben in der Herrlichkeit des Dreifaltigen Gottes zuteilwerden, ein ewiges Glück, das wir uns gar nicht vorstellen können.

Nun könnte man mir vorwerfen, dass diese Gedanken zwar herzerwärmend, aber doch ziemlich weltfremd sind. Machen wir es also konkret: Welche Bedeutung hat das für mich, für mein jetziges Leben, dass Gott mir auf diese unaussprechliche Weise zugewandt ist? Als ich vor einigen Jahren im Urlaub war, empfand ich in einem Augenblick: „Schöner kann es nicht werden!“ Zugleich wurde mir bewusst, was es bedeutet: „Ich habe es nicht verdient. Aber ich bin es wert.“ Natürlich hatte ich den Urlaub selbst bezahlt. Aber kein Geld der Welt konnte das Glück dieses Moments kaufen. Nein, ich hatte diesen Moment des Glücks nicht verdient! Was hätte ich Gott bezahlen sollen dafür, dass er mir das Leben geschenkt hat? Dass er mich diesen Augenblick hat erleben lassen? Aber: Ich bin es wert, das zu erleben, weil Gott mich liebt! Weil ich sein Kind bin, weil er mich aus seiner freien Wahl, aus Liebe, in der Taufe zu seinem Kind gemacht hat. Gott schenkt mir diese Würde, sodass ich es wert bin, glücklich zu sein, solche Momente zu erleben; zu erfahren, was es bedeutet, von Gott geliebt zu sein. In der Schönheit dieses Augenblicks ließ Gott mich etwas von sich selbst, von seiner unendlichen Schönheit und Herrlichkeit erfahren.

Dieser Gedanke, es nicht verdient zu haben, aber durch Gott es wert zu sein, paart sich mit einem zweiten Gedanken: „Gott sieht mich und er liebt mich.“ Ich meine, mich gut zu kennen. Und von Zeit zu Zeit erschaudere ich, wenn ich in die Abgründe meiner Seele schaue. Gott kennt mich ungleich besser, als ich mich selbst kenne! Er kennt mich durch und durch, bis zum Grund – mit allem Guten und meinen Stärken, aber eben auch mit meinen Schwächen, allem Schlechten und Bösen – der Sünde. Und doch liebt mich Gott mit einer Liebe, die alles übertrifft, was ich in meinem Leben an Liebe erfahren habe, mit einer unauslöschlichen Liebe.

„Gott kennt mich und er liebt mich.“ Wenn Sie – vielleicht in der Stille der Anbetungskapelle des Domes, in der eucharistischen Gegenwart des Herrn – diesen Satz einmal auf sich wirken lassen, dann kann es sein, dass Ihnen die Tränen kommen. Für diese Tränen brauchen Sie sich nicht zu schämen. Für diese Tränen dürfen Sie dankbar sein! Und auch wenn Ihnen die Augen nicht feucht werden, haben Sie vielleicht spüren können, was dieses „ganz Neue“ bedeutet, dass sich Gott dem Menschen, also auch Ihnen und mir ganz persönlich, zugewandt hat. Dabei ist dieses Neue zweitausend Jahre alt! Zur Zeitenwende ist Gott einer von uns geworden, der in allem uns gleich ist außer der Sünde. Jesus Christus ist für uns gestorben und von den Toten auferstanden, um uns sein Leben zu schenken: Nicht, weil wir es verdient hätten, sondern weil Gott uns dessen wert macht! Er sieht mich und aus seinem freien Willen liebt er mich!

Von Gott beschirmt in den Stürmen des Lebens (Mai 2019)

von Dr. Marcus Falke-Böhne, Seelsorger im Pastoralen Raum Mindener Land

Es ist ein ganz alltäglicher und sehr praktischer Gegenstand; es ist ein Gebrauchsgegenstand, der immer griffbereit, immer zur Verfügung, immer einsetzbar ist – es ist etwas, das wir alle oft benutzen, an etlichen Tagen im Jahr, bei Sonnenschein und Regenwetter: Gemeint ist – natürlich – ein „Schirm“.

Nun, so ein Schirm ist schon eine tolle Erfindung: Bei schönem Wetter, bei herrlichem Sonnenschein oder bei großer Hitze, wenn die Sonne regelrecht auf der Haut brennt – an der See, im Schwimmbad oder einfach beim Spazieren gehen – ist so ein Schirm sehr nützlich. Denn egal, ob wir ihn nun selber tragen oder ihn einfach ins Gras oder in den Sand stecken – so ein Schirm schützt vor den Strahlen der Sonne. Er bewahrt uns vor einem Sonnenbrand und spendet Schatten – so lässt es sich also unter einem Schirm gut aushalten. Aber auch bei schlechtem Wetter schützt uns so ein Schirm – zum Beispiel dann, wenn ein plötzlicher Regenschauer kommt. Dann brauchen wir nämlich nur schnell den Schirm aufzuspannen und schon sind wir geschützt, schon wird der Regen erträglicher – denn wir können sozusagen „trockenen Hauptes“ unseren Weges gehen.

Auch in der Bibel ist vom Schirm die Rede; so vergleicht nämlich der Psalm 91 Gott mit einem Schirm. Dieser Psalm sagt, dass Gott für uns Menschen wie ein Schirm ist, denn er schützt und beschützt uns. Und wahrscheinlich hat jeder schon einmal die Erfahrung gemacht, dass Gott bei und über ihm ist. So können wir uns bei Gott – wie unter einem Schirm – geborgen und sicher fühlen.

Diese Erfahrung, dass Gott uns Menschen beschirmt und beschützt, haben auch die Jünger Jesu gemacht – sie sind nämlich einmal in eine Situation hineingeraten, in der das Wetter ganz plötzlich umgeschlagen hat. Dabei sind sie aber nicht nur in einen Regenschauer, sondern vielmehr in einen regelrechten Seesturm geraten. Davon lesen wir im 8. Kapitel des Lukas-Evangeliums; wir erfahren dort, dass Jesus eines Tages mit seinen Jüngern ein Boot betrat, um mit ihnen über den See zum anderen Ufer zu fahren. Als sie gerade mitten auf dem See waren, erhob sich plötzlich ein heftiger Wirbelsturm. Dazu muss man wissen, dass ein Sturm auf dem See Genezareth – der hier wohl gemeint ist – nicht selten vorkommt, sondern sich gerade am Abend häufiger ereignet. Denn wenn die Temperaturen sich dort abkühlen, fallen von den umliegenden Bergen Winde herab, was wiederum zur Folge hat, dass die sonst glatte Oberfläche des Sees sich kräuselt und es recht ungemütlich werden kann.

So war es nun auch bei dem Sturm, den die Jünger Jesu erlebten; dort waren nämlich die Wellen haushoch und schlugen ins Boot. Wahrscheinlich haben die Jünger verzweifelt versucht, das Wasser hinauszuschöpfen, aber es kam immer mehr Wasser herein, sodass das Boot zu sinken drohte. Jesus hingegen hatte während des Sturms seelenruhig geschlafen sodass er zunächst überhaupt nicht bemerkt hatte, wie das Boot vom Sturm hin- und hergeworfen wurde. So hatte er auch gar nicht mitbekommen, in welcher Gefahr sie sich befanden, denn jeden Moment hätten sie mit dem Boot untergehen können. Deshalb weckten die Jünger ihn und riefen in ihrer Angst und Verzweiflung zu ihm: „Meister, Meister, wir gehen zugrunde!“ (Lk 8, 24) Da stand Jesus auf und drohte dem Wind und den Wellen; daraufhin wurde es auf einmal ganz still – der Wind legte sich, und der See wurde ganz ruhig, so dass die Jünger wieder ganz sicher waren.

Auch wenn die Geschichte vom Seesturm wahrscheinlich auf eine tatsächliche Erfahrung der Jünger zurückgeht, so geht es hier dennoch um sehr viel mehr als nur darum, dass einige sonst so berufserfahrene Fischer in Panik versetzt werden, als sie plötzlich in einen Sturm hineingeraten. Der Seesturm ist nämlich vielmehr ein Bild für unser Leben, das eben nicht nur aus Sonnenschein besteht. Stattdessen kann es mitunter sehr stürmisch im Leben zugehen; es gibt nämlich so viele sogenannte „Lebensstürme“, die über uns hereinbrechen können: Denken wir dabei z. B. an die ganz persönlichen Ängste, Sorgen, Nöte und Schicksalsschläge wie Krankheit, Einsamkeit, Kummer oder auch Arbeitslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit – und vieles mehr, was jeden von uns bedrückt.

Am Ende der Geschichte vom Seesturm braucht Jesus nur wenige Worte zu sprechen, woraufhin der Sturm sich sofort legt und sich alles wieder beruhigt. Aber leider ist es so einfach in unserem Leben nicht, dass unsere Probleme so plötzlich wieder verschwinden, als wenn sie überhaupt nicht da gewesen wären. Das wäre nämlich zu schön, um wahr zu sein, dass wir in Krisen einfach nur zu Jesus zu rufen bräuchten – und schon hätten sich alle unsere Probleme quasi in Luft aufgelöst. Doch das ist es auch nicht, das Jesus seinen Jüngern vermitteln möchte. Schließlich sagt er ja nicht: „Regt euch nicht so auf, ich werde schon alles wieder richten!“ Stattdessen fragt er sie einfach nur: „Wo ist euer Glaube?“ (Lk 8, 25) Damit will Jesus den Jüngern und zugleich auch uns sagen: Das, was ihr braucht, was euch wirklich bei euren Problemen helfen kann, das ist der Glaube!

Nun, Glauben meint ja, in Gott Vertrauen zu haben, dass er mich liebt. Dass er mich beschirmen und mir beistehen möchte. Dass er mir immer nah ist, an allen Tagen meines Lebens – auch dann, wenn es schwierig wird und es eben nicht so rund läuft, wie ich mir das eigentlich erhofft hatte. Dass er immer an meiner Seite geht – auch dann, wenn ich es im Moment vielleicht nicht spüre, weil die Probleme mir regelrecht über den Kopf zu wachsen scheinen. Dass er mich eben nicht im Regen stehen lässt, sondern vielmehr wie ein schützender Schirm für mich sein möchte. Und genau dieses Vertrauen, dieses Gottvertrauen ist es letztendlich auch, das uns wirklich hilft, Probleme und Krisen zu meistern, weil wir uns von Gott gehalten und getragen wissen dürfen in allen Situationen unseres Lebens – sogar in den Stürmen unseres Lebens, in denen er schützend seinen Schirm der Liebe über uns spannt. Dieses Vertrauen in einen beschirmenden und beschützenden Gott wünsche ich uns allen, damit wir auch in den Stürmen des Lebens wieder neuen Mut und neue Hoffnung schöpfen können.

Das Anderssein der Anderen als Reichtum wahrnehmen (Mai 2018)

von Dr. Marcus Falke-Böhne, Seelsorger im Pastoralen Raum Mindener Land

Wer sich für Schuhe interessiert, der wird mit einer unglaublichen Schuhvielfalt konfrontiert. Dabei sind sich eigentlich alle Schuhmodelle vom Aufbau her ähnlich. Es handelt sich bei ihnen allen letztendlich um eine Fußbekleidung, bei der das Oberteil mit einer festen Unterlage aus Leder, Holz, Gummi oder Kunststoff verbunden ist, die dem Schutz der Fußsohle dient.

Dennoch: Wagen wir einen Blick in die Welt der Schuhe, so stellen wir fest: Es gibt eine scheinbar unbegrenzte Auswahl an Schuhen, die sich nicht nur in Optik, sondern insbesondere auch in ihrer Funktionalität unterscheiden: So gibt es Badeschuhe, Bergschuhe, Bundschuhe, Hüttenschuhe, Halbschuhe, Hausschuhe, Kinderschuhe, Plateauschuhe, Schnabelschuhe, Skischuhe, Sportschuhe, Tanzschuhe, Turnschuhe, Wanderschuhe – um nur einige zu nennen. Und innerhalb dieser einzelnen „Schuharten“ gibt es wiederum scheinbar unendlich viele Modellvariationen.

Schon der Kauf eines Paares „Sportschuhe“ erscheint mir regelrecht als eine Wissenschaft für sich.

Wenn Sie im Fachgeschäft nach einem Paar Sportschuhe fragen, werden Sie unweigerlich mit der Frage konfrontiert: „Für welche Sportart benötigen Sie denn Sportschuhe?“ Zum Radfahren oder Joggen? Zum Basketball- oder Handballspielen? Für Fußball oder Tennis? Für Hallensport oder Sport im Freien? Und wenn Sie sich dann auf einen „Sportschuhtypen“ fest gelegt haben, sind Sie noch längst nicht fertig, denn: Der Verkäufer wird Ihnen vermutlich jetzt eine Vielzahl von Schuhen unterschiedlichster Anbieter aus unterschiedlichen Ecken der Erde präsentieren.

So vielfältig das Angebot an Schuhen ist, ist letztendlich auch das Leben: Leben ist vielfältiger, reichhaltiger, bunter als man es je in Worte oder Bilder fassen kann. Leben ist immer wieder anders – so wie jeder einzelne Mensch. Jeder von uns ist anders, lebt anders, bewegt sich anders auf dieser Erde. Familien- oder Freundeseinflüsse, Kultur, Traditionen, Religion, persönliche Fähigkeiten und Talente, aber auch Träume, Hoffnungen und nicht zuletzt auch persönliche Schwächen spielen dabei eine erhebliche Rolle. Wir Menschen sind alle anders, wir unterscheiden uns voneinander, und das ist gut so!

„Ja, wir sind alle völlig verschieden!“ – Wer den bekannten Satire-Film „Das Leben des Brian“ der britischen Komikergruppe Monty Python aus dem Jahre 1979 gesehen hat, dem kommen diese Worte sicherlich bekannt vor. Sie stammen aus der Szene, in der der naive und unauffällige Brian, der zur selben Zeit wie Jesus geboren wurde, versucht, die ihm „fälschlich folgende Menschenmenge“ ihre Einmaligkeit, ihre Individualität und Verschiedenheit verständlich zu machen und davon zu überzeugen.

Brian ruft der Menge zu: „Ihr seid doch alle Individuen.“ Darauf antwortet die Menge: Ja, wir sind alle Individuen.“ Und Brian ergänzt: „Und ihr seid alle völlig verschieden.“ Die Menge antwortet wiederum: „Ja, wir sind alle völlig verschieden.“ Daraufhin ruft einer: „Ich nicht!“

Für uns Menschen scheint es immer wieder und überall herausfordernd, mit dem Anderssein anderer umzugehen und uns darauf einzulassen. Im Laufe des Lebens entwickeln wir unsere Normen. Für uns ist das – so wie wir es kennen und tun und leben – das „Normale“. Abweichungen von diesen Normen verunsichern, was nicht selten zur Bewertung oder Abwertung führt.

Aber was ist eigentlich so bedrohlich am Anderssein der anderen? Warum können wir es nicht vielmehr als eine bereichernde Vielfalt begreifen? Vielleicht hängt es damit zusammen, dass wir von klein auf gelernt haben, unsere eigene Identität zu bilden, indem wir uns zugleich in der Abgrenzung von anderen Menschen selbst erfahren haben.

Wenn ich die Individualität des Anderen nicht mehr in den Blick nehme und mich selbst zum „Maßstab aller Dinge“ mache, distanziere ich mich. Und zwar nicht nur von meinem Mitmenschen, sondern auch von mir selbst und letztendlich auch von Gott.

Wie gehe ich also mit dem Anderssein um? Wie reagiere ich auf Menschen, die ihren Platz in unserer Gesellschaft suchen, aber so anders sind als ich? Vielleicht, weil sie anders sprechen, denken, glauben, andere Bedürfnisse oder Traditionen haben? Wie kann ich – wie können wir – lernen, die Unterschiedlichkeit bzw. Vielfalt der Welt als Fülle und Reichtum wahrzunehmen und zu verstehen?

Sollten wir nicht viel mehr offen sein? Offen für das Neue, das Unbekannte, den Anderen, das Fremde. Offen für die Herausforderungen unserer Zeit und diesen mit Kreativität und Phantasie begegnen? Vielleicht erkennen wir mehr und mehr diese Fülle an Chancen, diese bereichernde Vielfalt und wagen es, uns dem Anderssein zu öffnen und neue Wege zu gehen…

Der Hörende – Josef von Nazareth (November 2017)

von David F. Sonntag, Pastor am Dom

Als ich Kind war, da empfand ich Warten auf Besuch immer als etwas ganz Besonderes. Wenn Tanten und Onkel erwartet wurden, dann wurde immer alles besonders vorbereitet. Die Mutter kochte stundenlang ein gutes Mahl, wir Kinder deckten den Tisch voller Spannung und schließlich warteten wir alle sehnsüchtig darauf, dass die Haustürklingel schellte und wir unsere lieben Verwandten nach langem wieder in die Arme schließen konnten.

Der Advent ist eine Zeit des Wartens. Schon sein lateinischer Name Advent – von „Adventus“ – Ankunft deutet darauf hin: Wir warten auf hohen Besuch und bereiten uns darauf vor, innerlich und äußerlich. Wenn auch oft heute das Äußerliche überwiegt, so mancher Konsum sich vielleicht zu stark in den Vordergrund schiebt, so ist auch eine geistliche Vorbereitung wichtig. Dazu gehört auch das Hören, Zuhören!

Für diesen Aspekt des Advents steht Josef, der Verlobte Marias. Die Bibelwissenschaftler streiten darüber, was für ein Mann er gewesen sei. Viel wissen wir nicht über ihn und auch im Zeugnis der vier Evangelien tritt Josef nur zurückhaltend auf: er hat in allen Evangelien nichts zu sagen. Die Heilige Schrift bezeichnet ihn aber als gerecht. Er hatte sich mit Maria verlobt, erfuhr aber, dass sie schwanger war. Jeder andere Mann hätte leicht daraus einen Skandal gemacht und die pikante Sache an die große Glocke gehängt. Josef aber ist im Herzen mild.

So beschließt er ganz im Stillen, sich von Maria zu trennen (zu finden in Lk1, 18-25). Schon hier kommt ein grundsätzlicher Wesenszug dieses Josef zum Tragen: er ist im eigentlichen Sinne demütig, zurückhaltend. Vermutlich war er kein Machotyp, niemand, der sich schnell in seiner Männlichkeit getroffen gefühlt hätte und lautstark polternd jeden davon überzeugen müsste, dass er ein ganzer Kerl sei. Josef ist eher sanft, ein stiller Typ, vielleicht sogar etwas passiv, ohne devot zu sein. Vor allem aber ist er Hörender, jemand, der in sich horcht und in den Bewegungen der eigenen Seele Gottes Ruf lauschen will. So erfährt er, im intimsten Bereich des menschlichen Bewusstseins, im Traum, was es mit der Schwangerschaft seiner Verlobten auf sich hat. Es scheint, als ob diese Erkenntnis, so tief diese Wahrheit ist, nicht wie ein Scheinwerferlicht ihm plötzlich und grell bewusst war. Vielmehr ist es ein Prozess des Durchdringens, des Horchens und Fühlens in sich hinein, so dass er zu der Erkenntnis gelangt, dass dieses Kind der Sohn Gottes sein wird.

Dieses Hineintröpfeln von Einsicht ist typisch: tiefe Wahrheiten brauchen Zeit, um langsam in die Seele zu gelangen, um in der Seele Gestalt anzunehmen und erfühlt und durchfühlt zu werden. Dass das Kind nun einmal nicht vom ihm sein würde, muss für Josef eine doppelte Bürde gewesen sein. Einerseits lebte er in der patriarchalen Gesellschaft, in der der Wert der eigenen Männlichkeit und Nachkommenschaft an oberster Stelle stand. Andererseits war ihm seine Herkunft, so verschüttet sie über die Jahrhunderte und wechselvolle Geschichte des Volkes Israel vielleicht war, noch bewusst: Josef stammte aus königlichem Geschlecht, aus dem Haus König Davids (wie uns die Stammbäume Jesu vor Augen stellen: Mt 1 und Lk 3). Mächtige Herrscher, mutige Krieger, große Männer waren seine Vorfahren gewesen.

Es muss ein Schmerz für ihn gewesen sein, so armselig und wenig royal sein eigenes Dasein als Handwerker war, dass er, als letztes Glied dieser langen Kette nicht einmal dazu fähig war, selbst einen Erben in die Welt zu setzen. Josef aber trug und ertrug diese Bürde: er nahm die Aufgabe an, den Sohn Gottes, der nun Mensch werden würde, aufzuziehen. Vermutlich tritt uns mit diesem Josef von Nazareth ein erstes Zeugnis für eine Berufung Gottes im Neuen Testament entgegen. Berufung bedeutet, eine Aufgabe von Herzen anzunehmen, auch wenn sie schwer und unangenehm ist, wenn sie viel von mir verlangt und ich sie dennoch trage: weil ich in ihr Auftrag Gottes und Liebeszeugnis ihm und den Menschen gegenüber erkenne. Diese Definition von Berufung trifft wahrlich auf Josef zu.

Die adventliche Gestalt Josefs kann uns in der Vorbereitung auf Weihnachten ein Vorbild sein. So still, demütig und mild er erscheint, materialisiert sich in ihm doch ein Fragezeichen. Es ist die Frage: sind wir noch wirklich Hörende? Oder überhören wir vieles, was von außen an uns dringt, von dem vieles weiß Gott unwichtig ist und nur so weniges wirklich für uns relevant ist? Hören wir noch in uns selbst hinein und erforschen wir in uns die Wendungen und Bewegungen der eigenen Seele? Glauben wir daran, dass Gott in uns zu uns spricht: dass er letztlich auch in uns Mensch werden möchte?

Ich wünsche Ihnen für diese Adventszeit, dass sie sich am Heiligen Josef ein Beispiel nehmen können. Dass Sie neu zuhören, in sich selbst lauschen können. Dass Sie Gottes Stimme im Sprechen Ihrer Seele vernehmen können. Der Advent kann, bei allem Trubel, eine Zeit dafür sein. Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Advent!

Nachts im Domschatz (Juni 2017)

von Sebastian Schulz, Pastor am Dom

Vor gut zehn Jahren lief in den Kinos der Film „Nachts im Museum“. Die Idee ist schnell erzählt. Der Tagträumer Larry wird Nachtwächter im Naturhistorischen Museum. Schon seine erste Schicht verläuft völlig anders als erwartet: Die Exponate der Ausstellung erwachen zum Leben. Im Museum ist plötzlich ein buntes Treiben von Neandertalern, alten Mayas, römischen Gladiatoren und Cowboys. Auch das Gerippe des Tyrannosaurus Rex wird wieder lebendig …

Bei meinem Besuch im neuen Mindener Domschatz musste ich an diesen Film denken und fragte mich einen Moment lang: Was wäre, wenn all die ehrwürdigen Exponate des Domschatzes plötzlich reden könnten oder gar lebendig würden?

Was würden sie wohl erzählen? Wovon würden sie berichten? – Vielleicht würden sie von den Umständen erzählen, unter denen sie entstanden sind. Vielleicht würden sie die Glaubenswahrheiten bekräftigen, welche Anlass gegeben haben, sie entstehen zu lassen.

Vielleicht würden sie schildern, was sie in den Jahrhunderten miterlebt haben. Darunter auch jener Tag im März 1945, an dem sie sich im Mindener Dom versteckt aufgehalten haben und wie durch ein Wunder vor der Zerstörung bewahrt worden sind – trotz der enormen Hitze um sie herum …

Ich frage mich, wie es wäre, vor dem Mindener Kreuz zu stehen, auf den Gekreuzigten zu schauen und mit ihm ins Gespräch zu kommen. Gewiss: Dieses Reden würde wohl zum Gebet werden …

All diese Gedanken sind bloße Fantasie, Tagträumerei, überhaupt nicht realistisch. Aber je mehr ich darüber nachdenke, muss ich sagen: Es bleibt doch eine wahre Aussage zurück: Christliche Kunst will mit uns in Kontakt treten. Die Figuren, Reliquiare, Kreuze, Bücher, Gewänder aus längst vergangenen Zeiten möchten uns heute ansprechen, uns von der frohen Botschaft des Glaubens künden. Nicht zuletzt möchten sie uns und unseren Glauben herausfordern.

Die Architektur der neuen Domschatzkammer möchte uns dazu einladen und ermuntern. Nicht umsonst sind die Fenster an der Hauptfassade so gestaltet, dass jeder, der über den Kleinen Domhof geht, einige der Exponate sehen kann – oder von ihnen gesehen wird.

Der Domschatz will mit der Außenwelt in Kontakt treten. Er will mit allen kommunizieren: mit dem Kunstinteressierten, der ihn besucht; mit dem Touristen, der nur kurz in der Stadt ist; mit dem Mindener, der auf dem Kleinen Domhof unterwegs ist zum Shoppen oder zum Arbeiten, und selbst mit dem Ahnungslosen, der sich mit dem christlichen Glauben und der christlichen Kunst nicht auseinandergesetzt hat.

Auch mit Ihnen und mit mir will er auf seine ihm eigene Art und Weise kommunizieren. Ich kann Sie nur ermuntern und bestärken, seine Einladung anzunehmen. Oder wie es der große Picasso einmal gesagt hat: „Das Geheimnis der Kunst liegt darin, dass man nicht sucht, sondern findet.“

Auf das Innere kommt es an (November 2016)

von Sebastian Schulz, Pastor am Dom

In einer Bücherkiste im Eingangsbereich einer Buchhandlung fand ich kürzlich einen Roman, den ich schon immer einmal lesen wollte. Der Preis des Buches war unschlagbar günstig. Ich hatte also keinen Grund, dieses Buch nicht zu kaufen. Erst zu Hause entdeckte ich den großen Stempel auf der Unterseite dieses Buches. Da stand gut leserlich aufgedruckt: „Mängelexemplar“. Dabei schienen mir Druck, Einband und Umschlag völlig in Ordnung zu sein. Meines Erachtens war der einzige Mangel dieses Exemplars der Stempelaufdruck „Mängelexemplar“. Trotzdem war ich irgendwie über dieses Buch enttäuscht. Die Freude über dieses „Schnäppchen“ war verflogen.

Vom Äußeren auf den Inhalt schließen – das kenne ich nicht nur bei Büchern. Wenn mir ein Mensch gegenübertritt, sehe ich seine körperliche Erscheinung: Mir fällt seine Statur auf. Ich achte auf seine Haltung, auf seine Kleidung und auf die Art und Weise, wie er sich gibt. Ich bin davon überwältigt, beeindruckt, bleibe unberührt oder werde abgestoßen.

Nur ein Blick, ein erster Eindruck – und ein erstes Bild von diesem Menschen ist fertig: Ich finde ihn sympathisch und neige dazu, ihm etwas zuzutrauen. Oder ich wende mich ab. Ich weiß, dass ich selbst in derselben Weise taxiert werde.

Bei Begegnungen und tieferen Gesprächen als Seelsorger wird mir aber nicht selten bewusst, dass das Äußere meines Gegenübers nur Fassade ist. Innerlich, seelisch sieht es da oft ganz anders aus. Das, was vor Augen ist, was ich von meinem Gegenüber äußerlich sehe, beeinflusst mich sehr, es wird dem anderen aber oft nicht gerecht.

Diese Erfahrung hat auch Samuel machen müssen im Alten Testament der Bibel (1 Sam 16): Gott sendet den Propheten zu einem gewissen Isai in Bethlehem. Gott hat einen seiner Söhne als König für Israel ausersehen.

Als Samuel nun einen Sohn des Isai namens Eliab sieht, ist er so angetan von ihm, dass er meint, das sei der von Gott Erwählte. Doch da greift Gott selbst ein und korrigiert Samuels Einschätzung mit den Worten: „Sieh nicht auf sein Aussehen und seine stattliche Gestalt, denn ich habe ihn verworfen; Gott sieht nämlich nicht auf das, worauf der Mensch sieht. Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz“ (1 Sam 16,7).

Während Isai insgesamt sieben Söhne vor Samuel treten lässt, kommt Samuel zu dem Ergebnis: Diese hat der Herr alle nicht erwählt. Erst auf eine Rückfrage des Samuel, ob das alle seine Söhne seien, muss Isai gestehen, dass der Jüngste noch fehlt, da er gerade die Schafe hütet. Samuel lässt David herbeiholen, und unverzüglich sagt Gott: „Auf, salbe ihn! Denn er ist es.“ Samuel nahm das Horn mit dem Öl und salbte David mitten unter seinen Brüdern. Und der Geist des Herrn war über David von diesem Tag an.

Samuel musste lernen: Das Aussehen, der äußere Schein, ist nicht das Auswahlkriterium Gottes. Bei Gott gelten andere Maßstäbe. Er lässt sich nicht vom äußeren Schein blenden.

Er schaut hinter die Fassaden. Er kennt die Gedanken, die Gefühle, die Beweggründe und innersten Regungen. Ihm kann und braucht niemand etwas vorzuspielen. Nicht das Äußere, sondern die innere Einstellung und die inneren Werte sind entscheidend.

Der Philosoph Arnold Gehlen hat einmal den Menschen als „Mängelwesen“ in der Natur bezeichnet, weil er im Vergleich zur Tierwelt nur ein schwacher Läufer, ein erbärmlicher Springer, ein schlechter Kletterer und miserabler Schwimmer ist. Und wenn wir uns persönlich mit anderen vergleichen, dann sehen wir deutlich unsere Schwächen, jeder ist ein Mängelexemplar. Von außen gesehen.

Als ich angefangen habe, meinen „Mängelexemplar-Roman“ zu lesen, mich in die Erzählung hineinzubegeben, da wurde der Inhalt wichtiger als der „äußere Stempel“.

Wenn wir Menschen kennenlernen, ihre Gedanken und Gefühle, dann verlieren die äußeren Einteilungen ebenfalls an Bedeutung. Das gilt auch im Umgang mit mir selbst. Wenn ich das Buch meines Lebens aufschlage und mich aufmerksam hineinvertiefe, dann werden die Stempel, die andere mir aufdrücken, weniger wichtig. Auf das Innere kommt es an, und das allein zählt.

Bei meinem Roman hat mich im Nachhinein nicht so sehr der äußere Stempelaufdruck geärgert, sondern meine Reaktion darauf. „Wenn da irgendwer ,Mängelexemplar‘ draufstempelt, muss ja wohl auch etwas daran mangelhaft sein“, dachte ich. Dabei ist es besser auf den Inhalt zu schauen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. Denn das Wesentliche ist innen, und auf das hat Gott sein besonderes Augenmerk. Das ist wirklich gut so!

Ein geistlicher Impuls zum Jahr der Barmherzigkeit (Juni 2016)

von Sebastian Schulz, Pastor am Dom

Bei einem Spaziergang an der Weser setze ich mich auf eine Bank, um mich auszuruhen. Da entdecke ich einen scheinbar „herrenlosen“ Hund, der es sich in der Sonne am Wegesrand gemütlich gemacht hat. Er liegt einfach da, sieht so aus, als wäre er dort gestrandet. Der Hund wird in der kurzen Zeit, in der ich dort verweile, von vielen Menschen, die an ihm vorbeikommen gestreichelt, angesprochen. Ein Mann, der seinen Hund an der Leine führt, gibt ihm sogar ein „Leckerli“.

Ich werde dort auf meiner Bank sehr nachdenklich und frage mich: „Hätte an der Stelle des Hundes ein „gestrandeter Mensch“ gelegen, hätten die Vorbeikommenden dann auch so freundlich und wohlwollend reagiert, oder hätten die meisten von ihnen einen weiten Bogen gemacht?

Dieser Gedanke ist gar nicht so realitätsfern. In unserer Welt zählt ein Menschenleben nicht viel. Ich denke an die Billigprodukte der Textilindustrie, die von weit unterbezahlten Frauen in Bangladesch hergestellt werden. Mir fallen die vielen Kinder ein, die bis zur Erschöpfung zur Arbeit gezwungen werden. Die Flüchtlinge, die auf lebensgefährlichen Wegen ihr Heil in Europa suchen. Wie ist es mit dem Schutz des menschlichen Lebens vor der Geburt oder am Ende des Lebens? Wer fragt nach den Opfern der Kriege, die um Bodenschätze und Öl, um Handelswege geführt werden?

Die Not in der Welt hat Papst Franziskus ins Herz getroffen, und dieser Papst will die Menschen aufrütteln: „Seht doch hin! – Und nehmt das nicht hin!“

Darum hat er das Jahr der Barmherzigkeit“ ausgerufen. Ein Jubeljahr wie dieses gibt es eigentlich nur alle 25 Jahre. Das letzte wurde im Jahr 2000 gefeiert. Wir sind also eigentlich viel zu früh dran.

Doch der scheinbar verfrühte Termin ist ein Hinweis dafür, für wie wichtig es dieser Papst hält, die Botschaft von der Notwendigkeit der Barmherzigkeit zu verbreiten.

Barmherzigkeit ist der „rote Faden“, der sich durch das Evangelium zieht. Wie oft hat Jesus in Gleichnissen das Erbarmen Gottes verkündet? Wie oft gepredigt, dass gewiss die Barmherzigen auch Barmherzigkeit erfahren?

Aus Liebe hat Jesus sein Leben am Kreuz hingegeben, damit wir Zukunft haben und es für uns Hoffnung gibt. Aus Erbarmen hat Gott im Sterben seines Sohnes für uns die Tür ins ewige Leben geöffnet.

Jesus versteht Barmherzigkeit nicht nur als „menschenfreundliche Grundeinstellung“, Jesus geht viel weiter! Er identifiziert sich selbst mit den Armen: den Hungernden und Dürstenden; mit denen, die aus der Fremde kommen, und mit denen, die alles verloren haben; mit den Kranken und den Weggesperrten. Jesus sagt: „Was ihr für einen dieser geschlagenen und geschundenen Menschen getan habt, das habt ihr mir getan – oder mir eben nicht getan“ (vgl. Mt 25,31-46).

Wie Jesus „Barmherzigkeit“ versteht, macht er auf eindrucksvolle Weise im Gleichnis vom „barmherzigen Samariter“ deutlich (Lk 10,25-37). Dieser Fremde, der der verachteten Volksgruppe der Samaritaner angehört, fragt nicht, wer da zusammengeschlagen und ausgeraubt am Straßenrand liegt, ob es Freund oder Feind ist. Er kümmert sich um ihn, als wäre es sein Bruder.

Wie Jesus „Barmherzigkeit“ versteht, macht er auch nicht minder eindrucksvoll im Beispiel vom „barmherzigen Vater“ deutlich (Lk 15,11-32).

Dieser Vater rechnet dem verlorenen Sohn nicht die Fehler der Vergangenheit auf, er macht ihm keine Vorwürfe und hält ihm keine Standpauke. Er überlegt auch nicht, wie er dem älteren Sohn schonend beibringen könnte, dass der „Taugenichts“ nun wieder zum Haus halt gehört … Er heißt den wiedergefundenen Sohn einfach herzlich willkommen. Dieser Vater handelt großzügig in verschwenderischer Liebe.

Beim Thema Barmherzigkeit gibt es in der Bibel keine Ausflüchte ins Spirituelle. Da geht es nicht nur um eine fromme Übung, die man nach der Fastenzeit getrost wieder vergessen kann. Es geht um die grundsätzliche und sehr konkrete Bereitschaft, anderen Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und sie so zu behandeln wie einen guten Freund. Den Nächsten zu lieben wie sich selbst (Mt 22,39)!

So hat auch Jesus gehandelt. Er hat sich ohne Berührungsängste mit Sündern an einen Tisch gesetzt. Er hat die Kranken nicht auf morgen vertröstet, sondern sie sogar am heiligen Sabbat geheilt. Er hat den Menschen Mut gemacht, nach bestem Wissen und Gewissen Gutes zu tun und im Übrigen auf Gottes Erbarmen zu vertrauen.

Diese Botschaft rückt Papst Franziskus neu in den Mittelpunkt. Es ist kein Spleen von ihm, wenn er auf dem Petersplatz seinen gesicherten Wagen verlässt, um einen Menschen zu küssen, der von der Elefantenkrankheit entstellt ist. Er tut das „zu Christi Gedächtnis“.

Es ist nicht bloß eine Marotte, wenn der Papst zum Mittagessen in der Kantine des Vatikans auftaucht und sich zu den Angestellten an den Tisch setzt. Er tut das „zu Christi Gedächtnis“.

Es ist nicht „Wichtigtuerei“, dass Franziskus das Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen hat. Er hat das getan, damit wir nicht vergessen, wie aufmerksam und verständnisvoll Christus mit uns Menschen umgegangen ist. Barmherzigkeit ist immer sehr konkret.

Beim ersten Angelusgebet nach der Wahl von Papst Franziskus hatte ich das Glück, unter all den vielen Menschen auf dem Petersplatz in Rom zu sein.

Damals sagte Papst Franziskus: „Es hat mir so gut getan, von der Barmherzigkeit zu hören … Es ist das Beste, was wir hören können: Sie ändert die Welt. Ein wenig Barmherzigkeit macht die Welt weniger kalt und viel gerechter. Es ist notwendig, diese Barmherzigkeit Gottes gut zu verstehen, dieses barmherzigen Vaters, der so viel Geduld hat“ (Angelusgebet, 17. März 2013). Diese Worte sind mir bis heute im Gedächtnis, und ich möchte gerne mitmachen beim Verändern dieser Welt – zumindest da, wo es mir möglich ist.

Mit diesem Frieden im Herzen wirst du alles überwinden (Oktober 2015)

von Sebastian Schulz, Pastor am Dom

Es gibt Tage, da habe ich das Gefühl: Vieles, was heute von mir verlangt wird, das ist eine Nummer zu groß für mich! – Und wenn der Morgen schon so beginnt, ist das kein guter Start in den Tag. Falls Sie dieses Gefühl auch kennen, dann möchte ich Sie jetzt mit Paul Josef Nardini bekannt machen. Persönlich können Sie ihn nicht kennen, denn er lebte bereits vor über 150 Jahren. Im Oktober 2006 wurde er seliggesprochen. Nardini kannte das oben beschriebene Gefühl auch, er hatte nämlich keine leichte Lebensaufgabe: Immer wieder hat er versucht, Kindern, die auf der Straße lebten, ein neues Zuhause zu schaffen. Dabei halfen ihm Frauen, die in die von ihm gegründete Schwesterngemeinschaft der „Armen Franziskanerinnen von der Hl. Familie“ eingetreten sind. Das war damals, als in Deutschland die Industrialisierung begann und demzufolge die Verwahrlosung der Arbeiterklasse immer stärker wurde. Seine Aufgabe war also keine Arbeit hinter dem Schreibtisch und auch keine Arbeit, die täglich nur Freude machte.

Als seine Mitarbeiterinnen, die Ordensschwestern, beklagten, dass diese Sozialarbeit doch eine Nummer zu groß für sie sei, da sagte er ihnen: „Und wenn die Tage noch so schwer und trüb und prüfungsreich wären, der Herr wird dich jeden Morgen grüßen mit seinem ‚Friede sei mit dir!‘. Mit diesem Frieden im Herzen wirst du alles überwinden.“

Ich stelle mir vor, Paul Josef Nardini hätte diesen Satz heute sinngemäß zu mir gesagt, heute Morgen, kurz nach dem Aufstehen: „Mach dich nicht verrückt, wenn du siehst, was heute alles auf dich zukommt. – Wenn du dir Gedanken darüber machst, ob du den Herausforderungen des Tages gewachsen bist. Sei sicher, in dem Moment, als du wach geworden bist, da hat Gott bereits zu dir gesagt: ,Der Friede sei mit dir!‘“ Und – jetzt noch einmal Originalton Nardini: „Mit diesem Frieden im Herzen wirst du alles überwinden.“

In der Bibel, im Psalm 18, steht es ähnlich: „Mit meinem Gott überspringe ich Mauern.“ Um was es dabei geht, wissen die meisten nur zu gut: Wenn zwei Menschen frisch verliebt sind, dann geht ihnen alles leichter von der Hand, weil sie wissen, der andere steht zu mir – Egal, was passiert, ich kann ihm vertrauen.

Im Vertrauen auf Gott kann es ähnlich sein. Gott sagt jeden Morgen zu mir: „Der Friede sei mit dir!“, noch bevor ich irgendetwas geleistet oder angestellt habe. Und wenn ich mich innerlich auch noch so ausgelaugt, schwach und unmotiviert fühle: „Der Friede sei mit dir!“ Selbst wenn ich mich nicht mehr im Spiegel sehen kann: „Der Friede sei mit dir!“ Das sagt Gott zu mir und jedem von uns jeden Morgen. Mit diesem Frieden im Herzen wirst du alles überwinden – oder wenigstens wird es dir leichter von der Hand gehen.